Hollywood ist Marke und Mythos, seit Jahrzehnten eine Illusionsmaschine, die ihresgleichen sucht, nicht nur, wenn im Frühjahr die Oscars – oder offiziell: die Academy Awards – vergeben werden. Tausende von Akademie-Mitgliedern stimmen dann über die besten Filme des Vorjahres ab. Vor etwa hundert Jahren hatte die Ufa in Berlin eine vergleichbare Position und Macht. Die drei großen europäischen Filmfestivals in Berlin, Cannes und Venedig mit ihren entsprechenden Preisen in den unterschiedlichen Kategorien – je nach Stadt sind es bekanntlich goldene und silberne Bären, Palmen oder Löwen – verursachen jährlich einen zusätzlichen Hype um das Medium Film.
Auf der Berlinale gaben und geben sich bekanntlich auch regelmäßig viele Hollywood-Celebrities ein Stelldichein. Jeder von uns war schon mal auf der Berlinale, manche vielleicht auch am Roten Teppich, aber keiner hat allen Filmstars der vergangenen Jahre in Berlin ins Auge geschaut. Keiner, mit vielleicht zwei Ausnahmen: Dieter Kosslick, der langjährige Festival-Chef, und Gerhard Kassner. Dieser wurde 2003 von der Berlinale-Leitung damit beauftragt, ein offizielles Porträt der teilnehmenden Schauspieler*innen, Regisseur*innen, Juror*innen, Produzent*innen oder anderer wichtiger Personen aus dem Filmbusiness zu machen. Kassner hat in den folgenden 17 Jahren sehr viele Hollywood-Stars in einem kleinen Backstage-Studio porträtiert; dafür blieben ihm meist nur einige Minuten Zeit, teilweise mit nervigen oder nervösen Agenten im Nacken, bevor die Stars zur Pressekonferenz und zum kurzen Photo Call für die Kollegen weiterzogen.
In Kassners Porträts spüren wir gegenüber solch offiziellen Aufnahmen eine gewisse Intimität und häufig eine besondere Empathie des Berliner Fotografen für sein Gegenüber. Wie wir wissen, ist das Gesicht genauso Ausdruck der Individualität eines Menschen wie dessen Gesten. Sie sind hier sparsam eingesetzt, aber durchaus pointiert. Wir begegnen in dieser Ausstellung George Clooney, Helen Mirren, Meryl Streep, Lindsay Lohan, Salma Hayek und vielen anderen. Auch Helmut Newton hat zahlreiche Hollywood-Stars fotografiert, teilweise sind es die gleichen Namen, etwa Charlotte Rampling, Nicole Kidman, Martin Scorsese, Isabelle Huppert, Jeff Bridges, Nicolas Cage und Jack Nicholson; einige dieser Bildnisse hängen einen Stock höher, im Rahmen der Hollywood-Gruppenausstellung, und laden zum Vergleich der psychologischen Charakterisierung respektive der Selbstrepräsentation der Porträtierten bei Kassner und Newton ein.
Die sekundengenauen Aufnahmezeitangaben, hier insbesondere in Kassners Bildserien von Robin Williams und Nicole Kidman, verwandeln die Einzelbilder in eine Art sukzessiven Filmstreifen. So wird das Kinematografische mit fotografischen Mitteln weitergedacht.
Gerhard Kassner hat die großen Illusionsräume, die das Kino gemeinhin schafft, auf eine minimalistische Bühne und eine unmittelbare menschliche Begegnung heruntergebrochen. In der Porträtfotografie spielt sich grundsätzlich ein intuitives und intellektuelles Kräftemessen ab, eine Art Geben und Nehmen. In manchen Bildern vermag Kassner auch hinter die Fassade aus professioneller Coolness oder arroganter Attitüde zu schauen – auf diese Weise verwandelt er die normalerweise so Unnahbaren und vermenschlicht sie. Er lässt allen Protagonisten ihre Individualität und gleichzeitig Raum zur Selbstinszenierung oder zum Rollenspiel, und sei es eine überzeugende Darstellung von Offenheit und natürlichem Selbstbewusstsein. Dabei gelingt es ihm immer wieder, dem allgemeingültigen und bekannten Bild seines Gegenüber ein möglichst klischeefreies, neues und ungewöhnliches Abbild hinzuzufügen. All dies geschieht jenseits kunsttheoretischer Diskurse um das Mimetische und Authentische, um Identität und Gender in der heutigen Fotografie.
Kassners Aufnahmen hingen seinerzeit nur wenige Stunden nach dem Shooting überlebensgroß und von den Stars signiert an den Wänden im Berlinale-Palast – als aktuelles Dokument und künstlerische Referenz zugleich, in täglich wechselnder Präsentation. Knapp 100 dieser Porträts werden nun – parallel zur Hollywood-Gruppenausstellung – in unterschiedlichen Bildformaten im Projektraum der Helmut Newton Stiftung präsentiert, teilweise erstmalig überhaupt. Diese Auswahl ist nur ein kleiner Teil der mehr als 2000 Porträts, die Gerhard Kassner während der Berlinale bis 2019 aufgenommen hat; so ist eine unvergleichliche künstlerische Bestandsaufnahme, ja ein historisches Dokument der nationalen wie internationalen Filmgeschichte entstanden. Und mit dieser Porträt-Ausstellung werden en passant auch die Partnerstädte Berlin und Los Angeles sowie die beiden, inzwischen etwas ungleichgewichtigen Filmindustrien in Babelsberg und Hollywood miteinander verbunden.
Matthias Harder