Die Sommerausstellung in der Berliner Helmut Newton Stiftung ist erneut dreigeteilt, mit Alice Springs, Helmut Newton und Mart Engelen vereint sie nicht nur drei Bildautoren, sondern auch drei unterschiedliche fotografische Ansätze.

Unter dem Pseudonym Alice Springs arbeitet June Newton seit 1970 selbst als Fotografin, insbesondere im Porträtfach. Nun wird die 2015 vom Pariser Maison Européenne de la Photographie (MEP) organisierte Retrospektive auch in Berlin gezeigt; darin finden sich zahlreiche intensive Porträts in Schwarz-Weiß und Farbe, ergänzt durch eine umfangreiche Bildserie von Straßenfotografien, die in der Melrose Avenue in Los Angeles entstanden sind, wo Alice Springs in den 1980er-Jahren die kalifornische Punk- und HipHop-Szene porträtierte.

Helmut Newton arbeitete nicht nur im Auftrag von Modezeitschriften oder Modedesignern. Er interessierte sich auch für Abseitiges, für Paparazzi-Bilder, Polizei-Fotografie und Kriminalgeschichten, kurzum: für die Yellow Press. Die gleichnamige Ausstellung Yellow Press wurde noch vom Fotografen persönlich zusammengestellt und erstmals 2002 in seiner damaligen Züricher Galerie präsentiert. Darin finden sich mehrere Bildserien, die zuvor nicht in seinen Büchern veröffentlicht worden sind.

Auch diesmal wird posthum dem Wunsch Helmut Newtons entsprochen und ein weiterer Fotograf eingeladen, in „June’s Room“ auszustellen: Der Amsterdamer Mart Engelen, der auch ein exklusives Fotomagazin herausgibt, zeigt in Berlin mehr als 20 Schwarz-Weiß-Porträts der zeitgenössischen internationalen Kulturszene – inspiriert u. a. durch den französischen Film noir.

Springs – Newton – Engelen

Matthias Harder

Die Sommerausstellung in der Berliner Helmut Newton Stiftung ist erneut dreigeteilt, mit Alice Springs, Helmut Newton und Mart Engelen vereint sie nicht nur drei Bildautoren, sondern auch drei unterschiedliche fotografische Ansätze.

Unter dem Pseudonym Alice Springs arbeitet June Newton, Witwe des legendären Mode- und Aktfotografen, seit 1970 selbst als Fotografin, insbesondere im Bereich Porträt. Mehrfach haben Alice Springs und Helmut Newton zusammen ausgestellt, vor allem das gemeinsame Fotoprojekt Us and Them. 2010 wurde die erste Alice Springs-Retrospektive in der Helmut Newton Stiftung realisiert, damals auf der gesamten Sonderausstellungsfläche. Im Sommer 2016 wird nun die zuvor vom Pariser Maison Européenne de la Photographie (MEP) organisierte Einzelausstellung auch in Berlin gezeigt, erneut begleitet von einer Publikation im Taschen-Verlag. In den zahlreichen Porträts ihrer Fotografenkollegen – darunter Richard Avedon, Brassaï, Ralph Gibson und natürlich Helmut Newton – sowie anderer Prominenter wie Nicole Kidman, Audrey Hepburn, Christopher Lambert oder Claude Chabrol gelingt es Alice Springs nicht nur, das Aussehen der Dargestellten einzufangen, sondern auch deren Aura. Der wortlose Dialog, der zu den außergewöhnlichen Porträts führt, scheint auf einer Art Seelenverwandtschaft zu fußen.

Die intensiven Bildnisse in Schwarz-Weiß und Farbe werden durch eine umfangreiche Bildserie von Straßenfotografien ergänzt, die in der Melrose Avenue in Los Angeles entstanden, wo Alice Springs in den 1980er-Jahren die kalifornische Punk- und HipHop-Szene aufmerksam dokumentierte. Diese anarchische Jugendkultur, gekennzeichnet durch teilweise radikale Frisuren und schrille Piercings, verweigerte sich der Idee einer kapitalistischen Gesellschaft. Nur einige Jahre später verebbte die musikalisch und modisch fundierte Protestbewegung in Kalifornien wieder; was von ihr blieb, ist unter anderem diese künstlerische Bestandsaufnahme.

Am Anfang des eigenen Œuvres von June Newton alias Alice Springs stand eine Grippe Helmut Newtons. June Newton ließ sich von ihrem Ehemann die Handhabung von Kamera und Belichtungsmesser erklären und fotografierte 1970 in Paris anstelle ihres kranken Mannes ein Werbebild für die französische Zigarettenmarke Gitanes. Das Porträt des rauchenden Models war der Startschuss für die neue Karriere der ausgebildeten Theaterschauspielerin, die in Frankreich insbesondere aufgrund der Sprachbarriere nur wenig Aussicht auf ein Engagement besaß. In der Folgezeit vermittelte ihr José Alvarez, der damals in Paris eine Werbeagentur leitete, Aufträge für Werbeaufnahmen von pharmazeutischen Produkten. Und Alvarez, inzwischen Chef der Editions du Regard, war es auch, der 1983 den ersten Porträtband von Alice Springs verlegte, denn ab Mitte der siebziger Jahre waren zahlreiche Porträtaufträge zu den Produktfotografien hinzugekommen: teilweise ikonische Aufnahmen, Menschenbilder voller Empathie, die noch immer die Mischung aus Einfühlung und Neugierde auf ihre Zeitgenossen transportieren, die das Werk von Alice Springs bis heute so interessant macht.

Auch wenn die meisten der Porträtierten zum kulturellen Jetset gehören, macht Alice Springs grundsätzlich keinen Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Neben prominenten Schauspielern, Regisseuren und Schriftstellern finden sich gleichberechtigt Bilder der Hell’s Angels oder anonymer Punks aus Los Angeles in ihrem Werk. Ihr Blick für und auf die Menschen konzentriert sie meist auf deren Gesichter; zuweilen fasst sie sie im engen Bildausschnitt als Brust- oder Dreiviertelporträt. Die Porträtierten schauen neugierig, offen und direkt in ihre Kleinbildkamera. Nur wenige Studioporträts sind darunter, die Mehrzahl entstand vielmehr – meist bei natürlichem Licht – im öffentlichen Raum sowie vor oder in den Wohnungen der Protagonisten. In den subtilen Porträts begegnen uns eitle Posen oder ein natürliches Selbstbewusstsein ebenso wie schüchterne Blicke. Die Bildnisse, im Auftrag von Zeitschriften ebenso wie aus freiem Antrieb entstanden, werden zu visuellen Kommentaren, zu Interpretationen der Dargestellten. Dennoch geht es der Fotografin trotz aller Nähe und Eindringlichkeit nie um ein Bloßstellen der jeweiligen Person. Und obwohl sie mitunter näher herangeht und spontaner auf überraschende Aufnahmesituationen reagiert als mancher Kollege, lässt Alice Springs jedem Einzelnen seine Individualität. Dabei gelingt es ihr immer wieder, dem allgemeingültigen und bekannten Bild ein möglichst klischeefreies, neues und ungewöhnliches Abbild hinzuzufügen. Möglicherweise hilft ihr die tiefe Kenntnis des Schauspiels, gleichzeitig auf und hinter die Fassade des Menschlichen zu schauen. Das gilt insbesondere für ihre Doppelporträts, in denen die Interaktion der Protagonisten – wie auf einer Bühne – geradezu inszeniert ist.

Dazu gehören auch die Porträts ihres Mannes, meist in Kombination mit bekannten Kollegen oder während eines Shootings, die mit den intimen Selbstporträts, die repräsentative Werkschau abrunden. Diese in erster Linie privaten Bilder komplettieren gewissermaßen die gemeinsame frühere Ausstellung Us and Them. Die meisten Aufnahmen der MEP Show wurden bislang nicht gezeigt. So schließt sich der Kreis gleich mehrfach; das Leben und das Werk der beiden Fotografen war vielfältig miteinander verbunden und trifft in der Berliner Ausstellung erneut zusammen.

Alice Springs, Melrose Avenue, Los Angeles, 1984
Helmut Newton, Yellow Press, Big Zipper II, Milano, 1988

Helmut Newton arbeitete nicht nur im Auftrag von Modezeitschriften oder Modedesignern. Er interessierte sich auch für Abseitiges, für Paparazzi-Bilder, für Polizei-Fotografie und Kriminalgeschichten, kurzum: für die Yellow Press, eine Mischung aus Sensationspresse und den Artikeln aus der Rubrik „Vermischtes“ der Tageszeitungen. Die gleichnamige Ausstellung Yellow Press, die noch vom Fotografen persönlich zusammengestellt und erstmals 2002 in seiner damaligen Züricher Galerie de Pury & Luxembourg präsentiert wurde, ist eine ungewöhnliche Melange aus unterschiedlichen Werkgruppen, entstanden zwischen 1973 und 2002. Darunter finden sich mehrere Bildserien, die zuvor nicht in den Büchern von Newton veröffentlicht worden sind, etwa eine Reihe, die er selbst „Self-Appropriation“ nannte, eine Aktserie zum Thema „Lolita“ für den Playboy oder eine Reportage im Auftrag von Paris Match über eine Gerichtsverhandlung in Monaco.

Newton hatte für die Ausstellung eigene Bilder von Magazinveröffentlichungen abfotografiert, teilweise ganze Seiten inklusive der Titelzeilen und Fremdartikel oder sogar Blindtext rund um das gedruckte eigene Bild – und in große Fotoabzüge verwandelt. Hierzu gehört auch die Bildserie auf den Spuren von Vladimir Nabokovs Lolita, die Newton Mitte der 1970er-Jahre für den Playboy in Florida aufnahm. In die Rolle der Kindfrau schlüpfte für Newton Kristine DeBell; zumeist nackt posierte das damals 22-jährige Modell in unterschiedlichen Motels oder leicht bekleidet in einem amerikanischen Straßenkreuzer. Die Fotografien wurden als Bildgeschichte im August 1976 im amerikanischen Playboy veröffentlicht, Kristine DeBell wurde gleichzeitig mit einer berüchtigten pornographischen Version von Lewis Carrolls Alice in Wonderland unter der Regie von Bud Townsend international bekannt.

Die Reportage aus dem Jahr 2002 über den Prozess gegen Ted Maher, den ehemaligen Krankenpfleger des libanesisch-brasilianischen Bankiers Edmond Safra, würde man hingegen nicht gleich mit Helmut Newton in Verbindung bringen. Der Fotograf begleitete die Gerichtverhandlung in Monte Carlo gegen Maher, der für den Tod seines Patienten im Dezember 1999 verantwortlich gemacht wurde, für das illustrierte Wochenmagazin Paris Match. Newton fotografierte rund um die Verhandlung im Stil eines Gerichtsreporters, schnell und in Farbe, teilweise mit den vorbeihuschenden Protagonisten nur im Bildanschnitt.

Im Fokus der rätselhaften, 18-teiligen S/W-Bildgeschichte The Woman on Level 4 steht eine junge Frau, die Newton in einem kleinen, fensterlosen Raum exponiert. Mal ist sie nackt und mit einer Metallkette gefesselt, mal sehen wir sie mit semi-transparentem BH und zugeklebten Augen, schließlich mit schwarzen Stilettos und einer automatischen Pistole oder mit dunkler Lederjacke an einem altmodischen Telefon. Zusammengenommen entspricht die Serie einer Art Kriminalgeschichte in Bildern ohne Anfang und Ende. Das Nicht-Mehr-Sehen-Wollen oder -Können der Frau mit verklebten Augen steht paradigmatisch für den leeren, abgeschlossenen Raum, eine seltsam klaustrophobische Bühne, auf der sich die junge Frau gleichsam um sich selbst dreht. In den letzten Aufnahmen der Serie hält das Modell einen englischsprachigen Zeitungsausriss in der Hand, der einen mysteriösen Mordfall im Jahr 1923 thematisiert, was die Zeitebenen völlig verschwimmen lässt. Tatsächlich fotografierte Newton die Bilder im Jahr 2000 in der Garage seines Apartmenthauses in Monaco. Der Fotograf hebelt eine chronologische Narration aus und spielt mit einer filmischen Assoziationskette, die zur jeweils nächsten Szene hart überblendet.

Ein kurzer Werbefilm für den italienischen Reißverschlusshersteller Lanfranchi aus den 1980er-Jahren und die darauf beruhenden Polaroids, die Newton Jahre später vom Bildschirm abfotografierte, ergänzen die Yellow Press Ausstellung auf ungewöhnliche Weise, wählt er doch auch hier eine ironische Paraphrasierung einer Sadomaso-Phantasie. Auch die Polaroids sind der künstlerischen Kategorie der Self-Appropriation, der visuellen Selbstaneignung, zuzuordnen. Newton arbeitet erneut wie ein Choreograph, indem er mit wenigen Accessoires geschickt ein Bühnengeschehen generiert und unseren voyeuristischen Blick auf Verzweiflung und Verkleidung, auf Intimität und Narzissmus lenkt. Macht und Eros und das Spiel mit der Gefahr sind häufige Begleiterscheinungen der Newton’schen Bildwelt. So vereint er Boulevard und Tragödie, es ist ein Theater- und ein Gesellschaftsstück, über dessen Ausgang der Regisseur Newton uns im Unklaren lässt.

Viele Bildmotive und künstlerische Ansätze, die uns in der Ausstellung begegnen, bereichern das Bild, das man von Newton und seinem Werk gemeinhin hat. Da es sich um die letzte von ihm selbst zusammengestellte Bildauswahl handelt, kommt Yellow Press einer Art Vermächtnis nahe. Im Spannungsfeld von Kunst und Kommerz hat Helmut Newton es stets vermocht, zu überraschen und zu provozieren. Er war mit seinem genreübergreifenden Werk ein ebenso intelligenter wie raffinierter Geschichtenerzähler im Hochglanzformat.

Auch diesmal wird posthum dem Wunsch Helmut Newtons entsprochen und ein weiterer Fotograf eingeladen, in „June’s Room“ auszustellen: Mart Engelen aus Amsterdam zeigt erstmals in Berlin seine Schwarz-Weiß-Porträts der zeitgenössischen Kulturszene – inspiriert u. a. durch den französischen Film noir –, darunter Schriftsteller wie Michel Houellebecq, Künstler wie Gilbert & George und Julian Schnabel oder Musiker wie Pete Doherty.

Nach ein paar Semestern des Jurastudiums an der Universität in Utrecht wechselte Mart Engelen mit Anfang zwanzig zur Fotografie. Zehn Jahre später begann seine Karriere als freier Fotograf, gleichzeitig arbeitete er im Auftrag großer Unternehmen wie Philips oder Canon sowie für Zeitschriften wie Esquire oder Vanity Fair. Anfang der 1990er-Jahre lebte er zeitweise in Los Angeles, Ende der Neunziger in New York, wo er sich für eine Fokussierung auf das Schwarz-Weiß-Porträt entschied. Engelen publizierte bisher drei Bücher, seit 2009 veröffentlicht er zudem das exklusive Fotomagazin #59, das in jeder Ausgabe zahlreiche seiner eigenen Bilder zeigt – eine interessante Verbindung zu Helmut Newton, der selbst zwischen 1987 und 1995 die ebenfalls sehr großformatige Zeitschrift Helmut Newton’s Illustrated herausgab.

Mart Engelen fotografiert die „Schönen und Reichen“ häufig in ihren eigenen vier Wänden oder Ateliers, aber auch auf dem Filmfestival von Venedig oder nach Vernissagen. Die meisten Aufnahmesituationen differieren von offiziellen Porträtsitzungen, bei denen ein Fotograf mit dem Modell im Auftrag eines Magazins, auch mit Unterstützung von Visagisten und Beleuchtern, teilweise stundenlang arbeiten kann. In derartigen Sitzungen, egal wie lang oder kurz sie sind, verfolgt der Fotograf meist einen vorher festgelegten Plan für das entscheidende Bildnis, gelegentlich auch unter Verwendung von Accessoires. Bei Mart Engelen verläuft der Arbeitsprozess, ähnlich der Arbeitsweise von Alice Springs, meist viel schneller und spontaner, auch wenn dies nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Viele der Porträtierten blicken, auch dies eine Parallele zu Alice Springs, bei Engelen neutral und offen zurück in die Kamera, dessen Blick weder entlarvend noch verklärend ist.

Wir spüren die Intensität des Ausdrucks der so unterschiedlichen Charaktere, meist jenseits der öffentlichen Rolle. Gelegentlich gibt es jenseits des direkten Blickes eine unmittelbare Konfrontation zwischen dem Porträtierten und dem Porträtierenden. In der Porträtfotografie spielt sich grundsätzlich ein intuitives und intellektuelles Kräftemessen ab, eine Art Geben und Nehmen, im besten, intensivsten Fall gelingt ein Blick durch die Augen in die Seele des Menschen, was wiederum von einer geschickten Schutzhaltung des Models geblockt werden kann. Gute Porträts können für den Bildbetrachter somit geradezu augen- und bewusstseinsöffnend sein. Dass sich Mart Engelen in diese Richtung entwickelt, zeigen zum Beispiel seine Porträts von Pete Doherty oder William Dafoe. Beiden Dargestellten gibt er genügend Raum für eine zurückhaltende Selbstrepräsentation. Und auch wenn der Bildaufbau als traditionell oder klassisch bezeichnet werden kann, sticht gelegentlich etwas Besonderes in Engelens visueller Personenschilderung heraus, etwas, was der geübte Rezipient erspüren, wenngleich nicht immer in Worte fassen kann. Vielleicht ist es diese unnachahmliche Verbindung aus Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit, die wir in der Darstellung erahnen.